Einheit und Vielfalt der Sportwissenschaft
Hägele, W.: Integrative Sportwissenschaft: Leitidee oder Utopie? Szenario einer künftigen Sportwissenschaft. In: Digel, H. (Hrsg.): Sportwissenschaft heute. Eine Gegenstandsbestimmung. Darmstadt 1995, S. 90-98.
Schlüsselwörter
Sportwissenschaft; Materialobjekt; Formalobjekt; Teildisziplinen; Mutterwissenschaften; Theorie der Leibeserziehung; Grundlagenforschung; angewandte Forschung; Spezialisten; Generalisten; Praktiker; Theoretiker; Einheitsideal; Lebenswelt; Aggregatwissenschaft; Integration; Interdisziplinarität
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Einleitung
Die Sportwissenschaft konstituierte sich Anfang der 1970er Jahre unter der Leitidee der Integration. Kein loser Verbund von Einzeldisziplinen wollte sie sein, sondern eine Sportwissenschaft, welche die Teildisziplinen in sich vereint. Dieser integrative Anspruch war und ist Programm, Leitbild und Ziel der Sportwissenschaft bis heute (vgl. GRUPE 1971, S. 0 ff.; 1987, S. 46; WILLIMCZIK 1980, S. 348 ff.; 1985, S. 11 ff.; KURZ 1990, S. 260 ff.; PROHL 1991, S. 13 ff.).
Fortgeschrieben wurde damit das Ganzheitspostulat der Theorie der Leibeserziehung aus den 1960er Jahren mit der Begründung, dass die Anwendungsorientierung der Sportwissenschaft eine disziplinenübergreifend-integrative Arbeitsweise erzwinge, möchte sie verhindern, dass ihr multidimensional-komplexer Gegenstand, der lebensweltliche Sport, in ein zusammenhangloses, teildisziplinäres Aus- und Nebeneinander parzelliert wird (vgl. WILLIMCZIK 1986, S. 16/17; 1989, S. 81). Zwar befinde sich die Sportwissenschaft noch – oder noch immer – in der Übergangsphase der teildisziplinären Addition, langfristig und als letzter Entwicklungsschritt müsse dennoch – ungeachtet aller Hemmnisse und gegenteiliger Strömungen – ihre integrative Einheit das vordringliche Anliegen und Ziel der Sportwissenschaft sein und bleiben.
Faktisch entfernte sich die Sportwissenschaft jedoch immer weiter von ihrem integrativen Ideal. Mit zunehmender Binnendifferenzierung ihrer Strukturen machte sich teildisziplinäres Denken breit und ließ ihr einheitliches Selbstverständnis regelrecht verkümmern (vgl. GRUPE 1980, S. 334; 1987, S. 46/47; KURZ 1990, S. 260 ff.). Die Folge war eine wachsende Kluft zwischen normativem Leitbild und Wirklichkeit der Sportwissenschaft, die schließlich zu jenen Irritationen der Standort- und Kursbestimmung führten, die die gegenwärtige Lage der Sportwissenschaft kennzeichnen.
Die Sportwissenschaft wird daher nicht umhin können, ihr Strukturkonzept zu überdenken. Generell der Klärung bedürftig ist, ob und inwieweit die in der Vergangenheit gesetzten Zielvorgaben für die Zukunft als bewahrenswert erscheinen, oder ob Kurskorrekturen unabwendbar sind. Vordringliches Anliegen der Sportwissenschaft muss hierbei sein, die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ihres Selbstbildes zu beseitigen.
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Engstirniges Festhalten an tradierten Wertemustern bringt sie ebenso wenig weiter wie das Herbeireden einer Krise. Erforderlich ist stattdessen eine Wissenschaftsreflexion, die die blinden Flecken, Ausblendungen und strukturellen Schwächen der Sportwissenschaft thematisiert sowie Lösungsvorschläge unterbreitet, unter welchen Voraussetzungen und mit welchem Forschungsprogramm die Sportwissenschaft künftig einen bedeutsamen Rang erwerben kann.
1. Leitlinien einer künftigen Sportwissenschaft
Einen Beitrag hierzu versucht das nachfolgende Szenario zu leisten, dem die übergeordnete Prämisse zugrunde liegt, dass die Sportwissenschaft – allen Beteuerungen, Klagen und Zielvorgaben zum Trotz – keine Integrations-, sondern zuvorderst eine additive Aggregatwissenschaft ist, deren Basis unwiderruflich die Teildisziplinen bilden. Notwendigerweise musste sich die Ausdifferenzierung der Sportwissenschaft im universitären Organisationsgefüge zu Lasten ihres Einheitsideals vollziehen.
Unmittelbare Folge hiervon ist, dass das materiale Feld des lebensweltlichen Sports immer nur selektiv durch die jeweilige „Brille“ bzw. das je spezifische Erkenntnisinteresse einer Teildisziplin wahrgenommen wird. Diese besondere Aspektgebundenheit definiert den jeweiligen Gegenstand bzw. das Formalobjekt einer sportwissenschaftlichen Teildisziplin, gleichzeitig trennt sie die Teildisziplinen voneinander (vgl. DIEMER 1964, S. 50/51). So sehr daher der lebensweltliche Sport – als Materialobjekt – die Einheit der Sportwissenschaft begründen mag, so wenig liegt ein identisches Formalobjekt vor. Die spezifische Sichtweise der Teildisziplinen sorgt vielmehr dafür, daß der lebensweltliche Sport in einen je spezifischen Gegenstand von Sportpädagogik, Sportpsychologie, Sportmedizin usw. zerfällt (vgl. LIEBER 1988, S. 126/127).[1] Die häufige Vermengung von Materialobjekt und Formalobjekt in der sportwissenschaftlichen Diskussion ist daher nicht nur irreführend, sondern mag mit ein Grund für jene beharrlich vertretenen Ganzheitsforderungen sein, die sich von der pluralen Gegenstandsbestimmung der Sportwissenschaft her verbieten.
Die Neuauflage des Programms der Theorie der Leibeserziehung aus den 1960er Jahren ist demzufolge ebenso illusorisch wie Stufenmodelle der
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Integration von RIES/KRIESI (1979, S. 115 ff.) und anderen Autoren, die die allmähliche Verschmelzung der Teildisziplinen zu einer übergeordneten Einheit suggerieren. Dennoch erübrigen sich ganzheitlich-holistische Gegenstandsbestimmungen nicht, ganz im Gegenteil: sie sind notwendiger denn je, möchte die Sportwissenschaft der teildisziplinären Parzellierung ihres lebensweltlich-komplexen Gegenstandes „Sport“ entgegenwirken. Voraussetzung hierfür ist jedoch eine Entmythologisierung und Versachlichung der Diskussion. Über weite Strecken erinnern die Einheitsvorstellungen in der Sportwissenschaft nämlich an jene vormodernen Re-Integrationsversuche der philosophischen Universalsynthese, die mit der Disziplinen-Differenzierung der Wissenschaft unwiderruflich verloren ging. Alle Versuche, diese Einheit allen Wissens und aller Wissenschaften in der Moderne wiederherzustellen, scheiterten unweigerlich an diesem Tatbestand (vgl. LUYTEN 1974, S. 132 ff. SCHELSKY 1971, S. 214/215; 1966 b, S. 72 sowie VOSSKAMP 1984, S. 447/448).
Maßstab der sportwissenschaftlichen Integration kann daher nicht länger eine Metatheorie oder eine Wissenschaft des Sports sein, als vielmehr die Einsicht, dass sich Einheit und Ganzheitlichkeit der Sportwissenschaft heute nur noch partiell und themenzentriert herstellen lässt. Im Begriff der Interdisziplinarität ist diese Akzentverschiebung angelegt: Keine neue Superwissenschaft ist das Ziel, sondern die stets nur bedingte und nie auf Perfektion angelegte Zusammenarbeit der wissenschaftlichen Disziplinen zur gemeinsamen Lösung lebensweltlicher Probleme (vgl. HOLZHEY 1974, S. 108/109; VOSSKAMP 1984, S. 451, 460/461 und KAUFMANN 1987, S. 68/69). Derart relativiert, schließen sich additiv-plurale und integrativ-singuläre Sportwissenschaft nicht aus, vielmehr liegen Chance, aber auch Dilemma einer künftigen Sportwissenschaft gerade in deren maßvollen Verschränkung begründet.
2. Teildisziplinär-additive Sportwissenschaft
Als additiv-plurale Wissenschaft setzt sich die Sportwissenschaft aus relativ selbständigen Untereinheiten – den Teildisziplinen – zusammen, denen es obliegt, auf der Basis ihrer je spezifischen Gegenstandsbestimmungen Grundlagen- und angewandte Forschung zu betreiben. Vordringliches Anliegen der Grundlagenforschung ist hierbei, dem Erkenntnisfortschritt zu dienen und Wissen mittels der Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit zu entwickeln. Nicht den Prinzipien des Anwendungssystems wird das Primat erteilt, sondern der Präzisierung und Vertiefung ihres Begriffs-, Theorien- und Methodendesigns. Demgegenüber wird die angewandte Forschung unmittelbar durch Bedingungen der technisch-praktischen Verwer-
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tung tangiert. Sportpraktische Beratung und nicht wissenschaftliche Wahrheit als solche steht im Zentrum der Aufmerksamkeit, wodurch Außen- und Fremdbestimmung nie ganz auszuschließen sind.
Traditionell besteht zwischen Grundlagen- und angewandter Forschung eine versteckte Rivalität und Hierarchisierung zuungunsten letzterer, dennoch bedingen beide Bereiche einander. So verhindert die angewandte Forschung nicht nur, dass sich die Grundlagenforschung im Elfenbeinturm ihres Theorie- und Methodengebäudes verliert, sondern ist immer auch Test und Anregung für die Grundlagenforschung zugleich. Umgekehrt entgeht die angewandte Forschung den Gefahren zu starker Finalisierung und Instrumentalisierung am ehesten durch deren Rückbindung an die methodisch-theoretischen Ressourcen der Grundlagenforschung. Nur im spannungsvollen Miteinander, nicht in der Entgegensetzung von Theorie und Anwendung ist ein effektives Fortkommen der Sportwissenschaft und ihrer Disziplinen zu erzielen (vgl. BÜHL 1984, S. 287 ff. sowie LUHMANN 1990, S. 640 ff.).
Die einseitige praxisorientierte Ausrichtung der Sportwissenschaft bedarf daher der Problematisierung. Zweifellos gelang es ihr als anwendungsorientierte Wissenschaft innerhalb zweier Jahrzehnte, ein beachtliches soziales Ansehen zu erlangen. Vielfach wird jedoch übersehen, dass das Wachstum ihrer wissenschaftlichen Strukturen mit dem äußeren Erscheinungsbild allenfalls ansatzweise und vereinzelt als tiefenstrukturell und umfassend Schritt halten konnte (vgl. WILLIMCZIK 1985, S. 9/10). Die sportwissenschaftlichen Teildisziplinen werden daher nicht umhin können, eine Aufwertung ihrer Grundlagenforschung zu betreiben. Über ihre Anwendungsbezogenheit hinaus müssen sie verstärkt auch reine Wissenschaft sein! Der Anteil an reiner und angewandter Forschung wird sich in den Teildisziplinen zwar immer in den unterschiedlichsten Mischungsverhältnissen ausprägen, versteht sich die Sportwissenschaft ihrem Anspruch nach aber nur als anwendungsorientierte Wissenschaft, begibt sie sich in eine „praktologische“ Schieflage, die ihre wissenschaftliche Identität gefährdet.
Untereinander sind die Teildisziplinen allerdings nicht automatisch anschlussfähig (vgl. LUHMANN 1990, S. 446). Die spezifischen Gegenstandsbestimmungen, normativen Erwartungen und Traditionen einer Disziplin sorgen dafür, dass sich relativ eindeutige Grenzziehungen herausbilden, die sich vom kognitiven Korpus ihrer Theorien und Methoden nicht immer zwingend ergeben (vgl. HEIM 1991, S. 53 ff.). Dies erklärt, warum Verständigungsprobleme selbst zwischen jenen Teildisziplinen auftreten können, die in Thematik und Methodik eher verwandt miteinander sind; ein Umstand, der sich unschwer belegen lässt, zieht man als Indiz beispielsweise die disziplinübergreifenden Kongresse der „dvs“ heran.
Insofern der Erfolg und die Reputation einer Disziplin jedoch immer
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am allgemeinen wissenschaftlichen Standard gemessen werden, sind die Teildisziplinen gezwungen, sich trotz aller Sichtbehinderungen gegenseitig zu beobachten, Augen zu haben für alles, was dem eigenen Fortkommen dient. Ohne diese innere Umweltorientierung laufen die Teildisziplinen unweigerlich Gefahr, sich kognitiv und sozial abzuschließen; Stagnation und Verarmung ihres wissenschaftlichen Potentials ist in der Regel die Folge. Große Forschung zeichnet sich dagegen durch die Bereitschaft aus, auch von den anderen Disziplinen zu lernen; fortschrittliche Ideen, Methoden und Theorien werden adaptiert, anschlussfähige Technikentwicklungen aufgegriffen, kurzum: jede nur denkbare Chance wird wahrgenommen, um das eigene Erkenntnispotential zu erhöhen (vgl. STICHWEH 1984, S. 48-50).
Die Sportwissenschaft ist daher gut beraten, wenn sie den Dialog zwischen den Teildisziplinen pflegt und versucht, durch entsprechende Foren und Strukturvorgaben, den sich abzeichnenden Tendenzen zur Separierung und Abschottung ihrer Subsysteme entgegenzuwirken. Andererseits dürfen die Teildisziplinen den Kontakt zu den Mutterwissenschaften nicht abreißen lassen, möchten sie verhindern, dass sie der allgemeinen Wissenschaftsentwicklung permanent hinterherhinken oder sich gar zu isolierten „Branchenlehren“ verkürzen, deren Erkenntnisse nicht verallgemeinerungsfähig sind (vgl. HECKHAUSEN 1979, S. 46 ff.). Die deutliche Verzögerung und inhaltliche Minimierung, mit der mutterwissenschaftliche Innovationen in den Teildisziplinen wahrgenommen werden, deuten jedoch darauf hin, dass gerade in der mutterwissenschaftlichen Anbindung der Teildisziplinen nach wie vor Defizite bestehen, die der Korrektur bedürfen, möchte die Sportwissenschaft ihren Wissenschaftsgrad und damit ihr Reputationsniveau merklich erhöhen. Die vollständige Ablösung der Teildisziplinen von ihren Mutterwissenschaften kann daher auch nie das erklärte Ziel der Sportwissenschaft sein: qualitative Einbußen oder gar das Ausklinken aus dem wissenschaftlichen Dialog wären unweigerlich die Folge.
Hierarchische Strukturierung ist für die Sportwissenschaft nicht weniger problematisch, sorgt sie doch dafür, dass die prinzipielle Egalität der Teildisziplinen diskreditiert und in ein Verhältnis der Über- und Unterordnung verkehrt wird (vgl. STICHWEH 1988, S. 88; 1984, S. 14-39). Die Nachteile der durch Hierarchisierung bedingten Funktionalisierung der restlichen Teildisziplinen zu unbedeutenden Hilfswissenschaften sind im Allgemeinen zu groß, als dass sie durch etwaige Vorteile aufgefangen werden könnten. Die beharrlich geführte Diskussion zur Richt- und Leitungsfunktion der Sportpädagogik im additiven Gefüge ihrer „Schwestern“ bringt die Sportwissenschaft daher nicht weiter.[2] Reflektiert werden müsste in dem Zusammenhang aber auch, ob und inwieweit sich – zumindest langfristig – die
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wissenschaftliche Aufwertung der sog. „Praktiker“ an den sportwissenschaftlichen Instituten realisieren lässt, zum einen, um die Praxisrelevanz der Sportwissenschaft grundsätzlich zu erhöhen, zum anderen, um das Ungleichgewicht und die konfliktreiche Kluft zwischen sportwissenschaftlicher Basis („den Praktikern“) und sportwissenschaftlichem Überbau („den Theoretikern“) zu beseitigen. Eine innovative, zukunftsoffene Sportwissenschaft wird nicht zuletzt daran gemessen werden müssen, inwieweit es ihr gelingt, Dominanz und Hierarchie zwischen ihren Grundelementen einer partnerschaftlichen Lösung zuzuführen, ungeachtet der Schwierigkeiten, die hierbei zu bewältigen sind.
3. Interdisziplinäre Sportwissenschaft
Auffallendstes Kennzeichen der Diskussion zur Einheit der Sportwissenschaft war und ist zweifellos, dass an universalistischen Integrationsmodellen festgehalten wird, die sich wissenschaftshistorisch überlebt haben. Das Schielen auf das Ganzheitspostulat der Theorie der Leibeserziehung aus den 1960er Jahren trug hierzu ebenso bei wie die unzureichende Aufarbeitung des wissenschaftstheoretischen Erkenntnisstandes zur Interdisziplinarität; überwiegend wurde aus dem „Bauch“ argumentiert. Lediglich WILLIMCZIK (1979, S. 11 ff.; 1985; 1991; u.a.) setzte sich kontinuierlich mit interdisziplinären Fragestellungen auseinander. Seine Bemühungen verhallten jedoch weitgehend, ohne dass die erforderlichen Konsequenzen gezogen wurden; allenfalls hatten sie zur Folge, dass sich eine diffuse Vermischung universalistisch-interdisziplinärer Einheitsvorstellungen in der Sportwissenschaft durchsetzen konnte, die das Leitbild der Integration in vager Unbestimmtheit auflöste.
Über das Stadium gutgemeinter Absichtserklärungen und Appelle wird eine integrativ orientierte Sportwissenschaft indessen nur hinausgelangen, wenn sie sich von unrealistischen Leitbildern distanziert und anerkennt, dass sich ihre Einheit heute nur noch als interdisziplinäre Projektforschung am Materialobjekt herstellen lässt. Dies erfordert, dass sie sich eingehender als bisher mit den Zielen, Grundsätzen und Leitideen interdisziplinärer Forschung auseinandersetzen muss sowie Urteilskraft dahingehend entwickelt, wo deren Stärken und Schwächen, Möglichkeiten und Grenzen liegen.
So ist grundlegende Prämisse interdisziplinärer Forschung, dass es zur Lösung konkreter Lebensprobleme nicht ausreicht, die Wissensbestände der Disziplinen lediglich additiv miteinander zu verbinden (vgl. MITTELSTRASS 1987, S. 155 sowie LUYTEN 1974, S. 141), vielmehr sei hierzu deren sinnvolle Verbindung auf einer höheren Ordnungsebene unumgänglich. Was dabei als sinnvoll anzusehen ist, kann jedoch nicht vorausgesetzt werden, sondern
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hängt immer von der jeweiligen Problemstellung ab und lässt sich nur durch intensive Abstimmungsprozesse herausfinden. Interdisziplinär-problemorientierte Arbeitsweise kann daher nicht in feste Schablonen gepresst werden, sondern erzwingt stets ein pragmatisches Vorgehen (vgl. HÜBENTHAL 1991, S. 7).
Interdisziplinäre Projektforschung setzt ferner disziplinäre Erkenntnisse notwendig voraus. Ohne fachliche Fundierung droht diese unweigerlich zur bloßen Form ohne nennenswerten Inhalt zu verkümmern (vgl. VOSSKAMP 1984, S. 446; KAUFMANN 1987, S. 70 sowie MITTELSTRASS 1987, S. 154). Nicht weniger bedeutsam ist die unvoreingenommene Dialogbereitschaft und gegenseitige Toleranz der Disziplinen (vgl. HOLZHEY 1974, S. 118). Weder kann die paradigmatische Abschottung der Disziplinen noch disziplinärer Imperialismus dem fächerübergreifenden Gedankenaustausch dienlich sein. Darüber hinaus wird interdisziplinäre Forschung stets von gruppendynamischen Prozessen beeinflusst, von den sozialen Beziehungsmustern und Eigengesetzlichkeiten der jeweiligen Forschergruppe, die ihre je eigene Geschichte schreibt (vgl. JOCHIMSEN 1974, 29). Ohne ein Mindestmaß an empathischem Einfühlungsvermögen und sozialer Sensibilität aller beteiligten Fachvertreter ist interdisziplinäre Teamarbeit daher unweigerlich vom Scheitern bedroht. Größtes Handikap interdisziplinärer Projektforschung aber ist, dass sie sich zeitlich nur befristet etablieren lässt, soll eine Verkrustung ihrer Strukturen durch zwischenfachliche Dauereinrichtungen und Dauerspezialisierungen vermieden werden (vgl. SCHELSKY 1966 a, S. 43; 1966 b, S. 74 sowie WEINGART 1974, S. 27/28).
Bei der Durchführung interdisziplinärer Forschung hat sich allerdings gezeigt, dass diese leichter postuliert denn realisiert wird. Meist hartnäckiger als es dem zwischenfachlichen Gedankenaustausch zuträglich ist, behaupten sich die disziplinären Denkbarrieren. Wechselseitige Vorurteile sowie Informationsdefizite und Wissenslücken sind unmittelbare Folge hiervon, die oft nur durch Wiederholungsveranstaltungen und dem guten Willen aller Beteiligten abgebaut werden können (vgl. IMMELMANN 1987, S. 86 und HOLZHEY 1974, S. 112, 115). Hemmend wirkt sich zudem aus, dass die wissenschaftliche Karriere an der Universität ausschließlich disziplinär definiert ist. Damit entfällt die strukturelle Notwendigkeit zur überfachlichen Zusammenarbeit, was entscheidend mit dazu beitragen mag, dass diese Aufgabe überhaupt nicht oder nur im dilettantischen Nebenbei wahrgenommen wird (vgl. SCHELSKY 1966 b, S. 73/74).
Als Haupthindernis interdisziplinärer Projektforschung erweisen sich jedoch die Sprachprobleme, die vom unterschiedlichen Wissenskorpus der herangezogenen Begriffe, Theorien und Methoden der beteiligten Fachvertreter herrühren (vgl. HOLZHEY 1974, S. 106, 110 ff.; VOSSKAMP 1984, S. 458 sowie HÜBENTHAL 1991, S. 145 ff.). Die Gefahr des permanenten Aneinander-Vorbei-
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redens ist dadurch nie ganz auszuschließen.[3] Dies erklärt, warum die fächerübergreifende Integration der Erkenntnisse umso eher Erfolg verspricht, je mehr die disziplinären Arbeitsinstrumentarien, Traditionen und Interessen überlappen, während die Schwierigkeiten mit abnehmender Ähnlichkeit der kognitiven und sozialen Vorgaben derart eskalieren können, dass nur noch eine multidisziplinär-additive Ergänzung der Erkenntnisse möglich ist (vgl. KAUFMANN 1987, S. 67/68 sowie VOSSKAMP 1984, S. 451, 454). Verständlich wird dadurch aber auch der hohe Zeitaufwand, der in interdisziplinäre Forschungsarbeit zu investieren ist. Ein erfahrener Projektleiter, das Hinzuziehen von bi- und trilateralen Generalisten sowie die zielgerichtete Auswahl geeigneter Fachvertreter sind für den Erfolg interdisziplinärer Zusammenarbeit unentbehrliche Stützen, doch ohne intensive und langwierige Gruppenarbeit lassen sich die auftretenden Denk-, Sprach- und Verständigungsprobleme in der Regel nicht meistern (vgl. KAUFMANN 1987, S. 77 und HÜBENTHAL 1991, S. 149/150).
All diese Probleme haben zu einer merklichen Dämpfung der ursprünglichen Euphorie seitens der Befürworter interdisziplinärer Zusammenarbeit geführt und die Gegner in ihrer Kritik bestärkt. Nichtsdestotrotz lassen sich heute vermehrt interdiziplinäre Forschungseinrichtungen inner- und außerhalb des universitären Bereichs nachweisen, die durchaus erfolgreiche Arbeit leisten. Die Sportwissenschaft sollte sich daher in ihrem Willen zur interdisziplinär gemäßigten Integration durch voreilige Kassandrarufe nicht beirren lassen. Nach wie vor können hierzu SCHELSKYs universitäre Reformvorschläge Anfang der 1960er Jahre, mehr noch seine Überlegungen, die zur Gründung des „Zentrums für interdisziplinäre Forschung“ an der Universität Bielefeld geführt haben, wertvolle Hilfestellung leisten. Hüten sollte sich die Sportwissenschaft allerdings vor der trügerischen Hoffnung, interdisziplinäre Projektforschung könnte die durch die Disziplinen-Differenzierung der Sportwissenschaft bedingten Sichtbehinderungen jemals vollständig ausgleichen (vgl. LUHMANN 1990, S. 460).
Ob und inwieweit sich darüber hinaus transdisziplinäre Theorie-Konzeptionen realisieren lassen, wird kontrovers diskutiert (vgl. LUHMANN 1983, S. 155 ff. und HECKHAUSEN 1987, S. 129 ff.). Sofern jedoch akzeptiert wird, dass mit
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der zunehmenden kognitiven Distanz der beteiligten Disziplinen deren gemeinsamer Nenner umso formaler und abstrakter sein muss, sind transdisziplinäre Theoriekonzeptionen, wie etwa die allgemeine Systemtheorie oder, neuerdings, das Paradigma der Selbstorganisation, als weitere Möglichkeit anzusehen, um dem zunehmenden Auseinanderdriften der Teildisziplinen zu begegnen.
Ausblick
Als Resumee der Überlegungen kann festgehalten werden, dass die Sportwissenschaft heute primär additive Aggregatwissenschaft ist, die die Hierarchisierung und paradigmatische Abschließung ihrer Strukturen ebenso meiden sollte wie eine zu weitgehende Ablösung ihrer Teildisziplinen von den Mutterwissenschaften; Qualitätseinbußen wären unweigerlich die Folge. Über ihre Anwendungsbezogenheit hinaus muss die Sportwissenschaft außerdem bemüht sein, verstärkt auch Grundlagenwissenschaft zu sein. Ohne Intensivierung ihrer Grundlagenforschung wird es ihr kaum gelingen, ein attraktives Erkenntnisprogramm auf hohem Anspruchsniveau zu realisieren.
Ihren integrativen Anspruch wird die Sportwissenschaft nur einlösen können, wenn sie anerkennt, dass sich ihre Einheit und Ganzheitlichkeit heute nicht mehr auf der Ebene des Gesamtsystems herstellen lässt, sondern nur noch über den Verbund sich überlappender interdisziplinärer Forschungsvorhaben, sowie, mit Einschränkung, durch transdisziplinäre Theorie-Konzeptionen. Über das Stadium ideeller Leitvorstellungen wird jedoch auch eine interdisziplinär ausgerichtete Forschungskonzeption nur hinausgelangen, wenn die Erwartungen nicht zu hoch veranschlagt werden, andererseits nichts unversucht gelassen wird, das additive Organisationsgebäude der Sportwissenschaft mit interdisziplinären Strukturelementen zu ergänzen.
Inwieweit sich allerdings das aufgezeigte Szenario einer künftigen Sportwissenschaft in die Tat umsetzen lässt, bleibt dahingestellt. Fest steht jedenfalls, dass nicht Restauration und Zementierung ihrer Grundsätze die Sportwissenschaft weiterbringen wird, sondern nur zeitgemäße Reorganisation und Neuschöpfung. Der Gestaltungswille aller Beteiligten vor Ort, vereint mit Beharrlichkeit und nicht zuletzt Kompromissbereitschaft, ist Voraussetzung hierfür. Schließlich neigen universitäre Reformpläne nur allzu leicht dazu, in der Weisheit des Entschlusses steckenzubleiben und den langen Marsch durch die Entscheidungsgremien nicht zu überstehen.
Anmerkungen
[1] Während für WILLIMCZIK (1991, S. 11 ff.) der Mensch das Materialobjekt und die sportliche Bewegung das Formalobjekt der Sportwissenschaft bilden, wird hier die Ansicht vertreten, dass gemeinsames Materialobjekt der sportwissenschaftlichen Teildisziplinen zwar die sportliche Bewegung ist, dass ansonsten aber teildisziplinär je unterschiedliche Formalobjekte vorliegen.
[2] Vgl. den neuerlichen Disput zwischen KURZ (1992 a, b) und SCHERLER (1992 a, b).
[3] CRANACH (1974, S. 49 ff.) verdeutlicht die Problematik der begrifflichen Inkongruenz am Beispiel des Lächelns, das sowohl von der Psychologie, der Kulturanthropologie als auch der Verhaltensforschung untersucht wird. „Alle drei Disziplinen beziehen sich auf dasselbe Phänomen“, führen aber „die beobachtete Varianz des Verhaltens auf jeweils verschiedene unterliegende Informationssysteme zurück“. Dies bringt die Schwierigkeit mit sich, dass „in allen drei betroffenen Disziplinen die komplementären Erklärungen der anderen kaum verstanden werden“. Interdisziplinäre Dialoge verlaufen deshalb oft nach dem Muster wie: „‚Der Mond ist weit entfernt!‘- ‚Nein, er ist rund!‘ – ‚Nein, er ist gelb!'“.
Literaturverzeichnis
< Original S. 177-191: gemeinsam mit anderen Autoren >
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