Leistungs-, Spitzen-, Profisport
Hägele, W.: Hochleistungssport: Trends, Probleme, Lösungsversuche. In: Leistungssport 27 (1997), 1, S. 58-62.
Schlüsselwörter
Coubertin; Leistungsethos; Amateurideal; Hochleistungssport; Entwicklungstendenzen; Professionalisierung; Medialisierung; Kommerzialisierung; Politisierung; Selbstbestimmung; Fremdbestimmung; Zentralisierung; Fairness; Persönlichkeitsbildung; hypertrophe Leistungssteigerung; Erfolgsmentalität; Sportlerethik; Organisationsethik; Deutscher Sportbund
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Der moderne Hochleistungssport befindet sich in einer kritischen Entwicklungsphase. Für viele Kritiker sind ihm Maß und Ziel verloren gegangen. Doping, Unfairness und Erfolgssucht hätten, so wird argumentiert, die klassischen Sinnmuster des Leistungssports verdrängt. Beim Streben nach Rekord und Höchstleistung werde mittlerweile der Erfolg allzu sehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Letzten Endes verkürze sich der Leistungsbegriff im Hochleistungssport auf das Überbietungs- und Konkurrenzprinzip und fördere dadurch eine nüchterne Zweckrationalität, die nicht nur den Athleten vom Produkt seiner Leistung, sondern auch die Sportler voneinander entfremde.
Um beurteilen zu können, ob und inwieweit diese Kritik berechtigt ist und das Maß im Hochleistungssport wirklich verlorenzugehen droht, werden zunächst seine klassischen Orientierungswerte und Sinnmuster aufgezeigt. Danach werden die Entwicklungstendenzen im Spitzensport der letzten 30 Jahre skizziert. Zuletzt werden Lösungsvorschläge zu den wichtigsten Problemen unterbreitet, die diese Trends auslösten. Grundprämisse ist hierbei, dass trotz Kommerzialisierung, Politisierung und Medialisierung des Spitzensports seine tragende Sinnmitte ein normativ-ethischer Wertemaßstab sein und bleiben sollte, der Fairness und die Achtung der Person des Athleten zu tragenden Leitmotiven erhebt.
1. Die klassischen Sinnmuster des Leistungssports
Das Selbstverständnis des Leistungssports wurde seit Anfang des 20. Jahrhunderts maßgeblich durch die olympische Bewegung und die Leistungsphilosophie ihres Begründers, Pierre de Coubertin, definiert. Vor allem zwei Grundsätze formten dieses Selbstverständnis: Erstens, die Idee der menschlichen Selbstvollendung in und durch selbstbestimmtes Leistungshandeln, und zweitens, das Amateurideal, das den Berufssport ebenso ausschloss wie die materielle Verwertung des Sports.
Der traditionelle Leistungssport zielte demnach nicht nur auf die Erhöhung sportlicher Leistungen, sondern schloss Persönlichkeitsbildung als zentralen Leitgedanken mit ein. Nicht die Überbietung des Gegners war primäres Ziel, sondern die sittlich-moralische Vervollkommnung des Menschen. Selbstgewolltes und den Geboten der Fairness unterworfenes Leistungshandeln diente gleichsam als Medium der Arbeit an sich selbst. Der Sportler sollte „Herr des höheren Lebens“ und nicht Knecht „niederer Instinkte“ sein (DIEM 1959; 1960). Die sportliche Leistung wurde dementsprechend weniger vom Produkt als vom Prozess des Leistens her definiert: Nicht dem abstrakten Ergebnis wurde das Primat erteilt, sondern dem emotional besetzten Erlebnis des Leistens. Teilnahme und authentisches Sein wurden höherrangiger eingestuft als ein oft vordergründiges Rekord- und Siegstreben.
Das Amateurideal sollte diesen hohen Moralanspruch verwirklichen helfen, indem es jegliche wirtschaftliche Verwertung des Leistungssports ausschloss. Durch Verzicht auf materiellen Gewinn sollte dem Leistungssport der „adelige und ritterliche Charakter“ erhalten bleiben. So gesehen diente die Amateurgesinnung als Schutz des Leistungssports vor dem Geist der „Gewinnsucht“ sowie davor, dass der Athlet zum manipulierbaren Instrument sportfremder Mächte wurde (COUBERTIN 1967).
Natürlich wurde auch früher schon gegen dieses idealistische Selbstverständnis des Leistungssports verstoßen. Viele Kritiker sprachen ihm diesen hohen Anspruch gar generell ab und bemängelten, er diene eher dem „schönen Schein“, als dass er der Realität des Leistungssports entspreche. Allenfalls mittelbar werde der Leistungssport von solch hochgesteckten Sinngebungen tangiert. Aus heutiger Sicht erscheint der Leistungssport von gestern dennoch wie „eine schöne, heile Insel in einer weniger heilen Welt“. Weitestgehend ausgegrenzt aus der gesellschaftlichen Sphäre und versehen mit dem Etikett des Privatvergnügens konnte „das Feuer seiner Ideale“ – abgesehen von einigen aufsehenerregenden Fehltritten und ersten Ansätzen der politischen Instrumentalisierung – noch „vergleichsweise ungestört leuchten“ (GRUPE 1991, S. 32). Letztlich dem Selbstzweck spielerischen Tuns verpflichtet, war der Leistungssport in der Vergangenheit nicht nur Spiegelbild der ihn umgebenden Leistungs- und Erfolgsgesellschaft, sondern verkörperte – zumindest dem Anspruch nach – geradezu ihr besseres, humaneres Selbst.
2. Entwicklungstrends und Problemdarstellung
Welche Entwicklungstendenzen lassen sich nun im Hochleistungssport in den letzten 30 Jahren feststellen?
Zunächst sind hier die sprunghaft gestiegenen Leistungsanforderungen zu nennen, die heute dem Athleten ein weitaus höheres Maß an zeitlichem Aufwand, körperlicher Belastung und persönlicher Inanspruchnahme abverlangen, als dies früher der Fall war. So hat ein immer dichteres Wettkampfprogramm sowie ein immer umfangreicheres, häufig mehrmaliges tägliches Training – zuweilen bereits im Kindes- und Jugendalter – die Grenzen der biologischen Belastbarkeit der Athleten immer näher gerückt; für viele Sportmediziner wurden sie in einigen Sportarten sogar schon überschritten. Sich häufende, oftmals schwerwiegende und nicht selten ungenügend ausgeheilte Verletzungen an Bändern, Sehnen, Muskeln und Gelenken der Athleten belegen diese Entwicklung.
Rapide angestiegen sind ferner die psychischen und sozialen Belastungen, denen Spitzensportler heute ausgesetzt sind. In der Regel müssen sie über Jahre hinweg ihre gesamte Lebensplanung und Lebensgestaltung dem sportlichen Ziel unterordnen. Konnte noch in den 1960er Jahren mit Talent und einem drei- bis viermaligen Training in der Woche der Anschluss an das internationale Leistungsniveau in relativ kurzer Zeit hergestellt werden, ist heute eine jahrelange, zuweilen schier unmenschliche Anstrengung der Athleten erforderlich, um vielleicht in ferner Zukunft das gesteckte Ziel eines Olympiasieges oder eines Weltmeisterschaftstitels zu erreichen. Für viele Kritiker drohen daher die körperlichen, psychischen und sozialen Grenzkosten des Hochleistungssports mittlerweile seinen Grenznutzen regelrecht zu pervertieren.
Unverkennbar ist zum anderen der Trend zur Zentralisation im Spitzensport. Bildeten früher vor allem die Sportvereine die Integrationsbasis für den Leistungssport, rücken
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heute die Verbände zunehmend an deren Stelle. Diese Entwicklung setzte Mitte der 1960er Jahre mit der Errichtung von Bundesleistungszentren, der Anstellung von hauptamtlichen Bundestrainern sowie der Durchführung zentraler Lehrgänge durch die Verbände ein. Hinzu kam in den 1970er Jahren ein flächendeckendes Kaderstützpunktsystem, das in den 1980er Jahren ergänzt wurde durch eine begrenzte Anzahl von Olympiastützpunkten, die den Athleten vor Ort mit den notwendigen trainingsfachlichen, medizinisch-therapeutischen sowie sozial-psychologischen Betreuungsmaßnahmen versorgen sollen (vgl. EMRICH/PITSCH/WADSACK 1994, S. 151 ff.).
Zumindest partiell wuchsen dadurch Training und Wettkampf des Hochleistungssports aus dem Vereinsrahmen heraus und fielen in den unmittelbaren Kompetenzbereich der Verbände, ihrer Spezialtrainer, Serviceeinrichtungen und Leistungszentren. Ein erhöhtes Konfliktpotential zwischen Vereins- und Verbandsebene blieb unter diesen Umständen nicht aus; hinzu kam die wachsende Entfremdung der Spitzensportler von ihrer Vereinsbasis, für die, so wird von Vereinsseite moniert, der Verein immer weniger eine Heimat zu sein scheint (vgl. ILKER/QUANZ 1986, S. 136 ff.).
Ferner nahm das öffentliche Interesse am Hochleistungssport und damit die Einflussnahme der Massenmedien auf seine Entwicklung in den letzten Jahrzehnten beständig zu. Spitzensport ist vor allem spannend und hat daher einen hohen Unterhaltungswert. HERMS (1985, S. 104) weist ihm aufgrund der massenhaften Nachfrage nach Phantasieerlebnissen in der postindustriellen Gesellschaft gar eine Schlüsselfunktion zu. Zum Faszinosum eines Milliardenpublikums avancierte der Spitzensport jedoch erst seit Ende der 1960er Jahre durch die sich verdichtende Medienpräsenz, insbesondere des Fernsehens und seiner Satellitendirektübertragungen. Die Kehrseite dieser Medialisierung des Hochleistungssports aber ist, dass die Massenmedien begannen, sein Bild in der Öffentlichkeit nachhaltig mitzubestimmen (vgl. MUCKENHAUPT 1988, S. 289 ff.). Dies geschah nicht nur zum Vorteil des Spitzensports und seiner inneren Wertebasis. Denn letztlich der Einschaltquote bzw. der Auflage verpflichtet, tendierten die Massenmedien überwiegend dazu, den Spitzensport auf publikumswirksame Sportarten, auf Starkult, Show, Sensation und Nervenkitzel zu verkürzen – mit dem Hochleistungssportler als Held und Opfer zugleich.
Die Konsequenz dieser medialen Sichtbegrenzung war nicht nur eine Aufteilung des Spitzensports in medieninteressante und medienuninteressante Sportarten, sondern seine zumindest partielle Denaturierung in eine publikumswirksame Medienshow. Häufig steht nicht mehr die Leistung im Mittelpunkt des Geschehens, sondern obskure „Backstage“-Informationen und fragwürdige Geschichten drum herum, die auch vor der Unantastbarkeit der Persönlichkeitssphäre der Athleten nicht haltmachen. Hinzu kommt eine dramaturgische Bündelung der sportlichen Ereignisse auf wenige hochstilisierte Höhepunkte. Unter Verwendung von Zeitlupe und Zeitraffer wird dabei eine elektronische Wirklichkeitsebene erzeugt, in der die „manipulierten“ Akzente mit den objektiven Tatsachen zuweilen derart ineinander verfließen, dass sie kaum mehr zu unterscheiden sind. Kurzum: Der Hochleistungssport wird zum perfekt inszenierten Medienspektakel umfunktioniert, bei dem der Unterhaltungsaspekt weit stärker ins Gewicht fällt als eine kritisch-analytische Auseinandersetzung mit dem sportlichen Geschehen. Dies heißt nicht, dass berufsethischen Gesichtspunkten heute im Sportjournalismus keine Bedeutung mehr zukäme, doch drohen die Zwänge der Unterhaltungsindustrie diese nur allzu häufig an die Peripherie der journalistischen Arbeit zu verdrängen.
Medialisierung und wachsendes öffentliches Interesse am Spitzensport brachten es außerdem fast zwangsläufig mit sich, dass sportliche Großveranstaltungen und der Kampf um Medaillen zunehmend in den Sog der nationalen Repräsentation und der Legitimation von politischen Systemen gerieten. Zumindest indirekt wurde der Hochleistungssport dadurch in die Rolle eines Symbolträgers für die Leistungskraft eines Landes gedrängt. Damit wuchs aber auch die Einflussnahme der Politik auf den Spitzensport. Trotz des beharrlichen Eintretens der Sportfunktionäre für die politische Neutralität des Spitzensports lassen sich daher in der Geschichte der Olympischen Spiele der Neuzeit viele Beispiele für deren Politisierung und damit für die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln finden. Erwähnt seien hier nur die chinesisch-taiwanesischen, die nord- und südkoreanischen sowie die deutsch-deutschen Querelen, die über Jahrzehnte den internationalen Sportverkehr mit einem erheblichen Konfliktpotential belasteten.
Die Politisierung des Spitzensports ging indessen nicht nur von den staatlichen Organen aus, sondern wurde auch durch die Sportverbände und deren Forderung nach staatlicher Unterstützung heraufbeschworen. Als Begründung hierfür wurde angeführt, angesichts des außerordentlich hohen Leistungsstandards der Weltelite könne sich die Politik der gemeinsamen Verantwortung nicht länger entziehen. Derart vom Deutschen Sportbund in die Pflicht genommen, erlangte der Staat seit Mitte der 1960er Jahre durch die Gewährung von sukzessiv steigenden Mitteln für die Sportverbände einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Belange des Spitzensports (vgl. DIGEL 1988, S. 68 ff.).
Die Partnerschaft von Sport und Staat auf der Basis der Subsidiarität droht dadurch in ein Abhängigkeitsverhältnis vom Staatsetat umzuschlagen, das viele Momente der oft hintergründigen politischen Bevormundung enthält. Wohl beschränkten sich die staatlichen Stellen bislang in aller Regel nur auf die Kontrolle der Verwendung ihrer Finanzmittel und verknüpften damit keine direkten Forderungen. Wiederholt wurde auch der Status quo der freien Sportbewegung beteuert. Trotzdem ist dadurch die Gefahr der schleichenden Instrumentalisierung des Spitzensports durch Staat und Politik zu Lasten seiner Unabhängigkeit stets gegeben.
Bei weitem tiefgreifender und umfassender als seine politische lndienstnahme erwies sich jedoch spätestens seit Anfang der 1970er Jahre die rapide um sich greifende Kommerzialisierung und Professionalisierung des Spitzensports (vgl. HEINEMANN 1984). Löste das immer umfangreichere Trainings- und Wettkampfprogramm notwendigerweise eine allmähliche Verberuflichung von Athleten-, Trainer- und auch Funktionärsrollen aus, konnten die stetig wachsenden Kosten im Spitzensport ohne die finanzielle Unterstützung durch die Wirtschaft immer weniger abgedeckt werden. Das zunächst hartnäckige Festhalten am Amateurideal hatte dabei eine Ökonomie der „verdeckten Gelder“ und der zwielichten Machenschaften zur Folge, deren Schein-Moral den Hochleistungssport zunehmend in Misskredit brachte: Pro forma-Anstellungen bei Firmen, versteckte Ablösesummen und mannigfache heimliche Zuwendungen oder auch die kostenlose Bereitstellung von Wohnungen und Autos ließen eine Art Schattenwirtschaft entstehen, die das idealistische Gedankengut im Hochleistungssport mehr und mehr entwertete.
Erst durch die Verwerfung des Amateur-Paragraphen im Jahre 1981 wurde diesem Diskreditionspotential seine systemgefährdende Brisanz entzogen. Fortan wurde dem Athleten das Recht auf Erwerbs- und Versorgungschancen durch den Sport zugebilligt. Seitdem schritt jedoch die Verflechtung des Spitzensports mit Wirtschaft, Mäzenatentum und Sponsorenschaft unaufhaltsam voran. Neben der Trennung des Hochleistungssports in publikumsattraktive, reiche und sponsorunwürdige, arme Sportarten führte dies zu einer Relativierung seiner inneren Autonomie, seiner Werte und Grundprinzipien durch eine Rationalität des Marktes, der Warenästhetik und des Geldes, die für viele Kritiker das Potential seines Ausverkaufs in sich birgt. Für viele läuft der Spitzensport mittlerweile Gefahr, auf seinen Marktwert reduziert zu werden – auf Kosten seiner originären Werte. War der klassische Leistungssport noch eine Gegenwelt zu Beruf, Arbeit und Gelderwerb, droht er heute den Prinzipien der Profitmaximierung zu erliegen; und es bleibt abzuwarten, ob und inwieweit dieser Prozess künftig zu einer Trennung von gewerbeorientiertem Hochleistungssport und gemeinnützigem Breitensport führen wird.
Unmittelbare Folge der dynamisch wachsenden Verflechtungen und Abhängigkeiten des Spitzensports von Massenmedien, Politik und Wirtschaft war das Überhandnehmen einer Erfolgsmentalität, die das Siegen-um-jeden-Preis zunehmend über das Fairnessgebot stellte. Ein merkliches Anwachsen von Aggression und Gewalt im sportlichen Wettkampf zeugt hiervon (vgl. PILZ, u.a. 1982). So belegt die Aggressionsforschung im Sport, dass die Bereitschaft zu körperlichen Gewalthandlungen mit steigendem Leistungsniveau generell zunimmt. In vielen Sportarten werden versteckte und strategische Fouls oder auch das bewusste Täuschen des Schiedsrichters oft schon von Jugend an sozusagen als „Normal-
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verhalten“ erlernt und weitestgehend verinnerlicht. Außerdem belegen Untersuchungen im Eishockey, im Fußball oder auch im Handball ein informelles Normensystem neben dem sportartspezifischen Regelwerk, das mehr körperliche Aggression und Gewalt gutheißt als die offiziellen Regeln erlauben. Ganz offensichtlich werden mit zunehmendem Erfolgsdruck die ethischen Grundprinzipien des Sports durch eine Erfolgsmoral überlagert, die die Bereitschaft zum Foulspiel als festem Bestandteil des Spiels zumindest in Ansätzen bis hinunter in die unteren Leistungsklassen legitimiert. Nur mehr der Erfolg scheint oftmals zu zählen, ganz gleich, mit welchen Mitteln er erzielt wird, auch auf die Gefahr hin, den Gegner beim regelwidrigen Spiel ernsthaft zu verletzen.
Der ungeheure Erfolgsdruck trug ferner dazu bei, dass spätestens seit Ende der 1970er Jahre die Doping-Szene unter dem Mantel der Verschwiegenheit einen Allgemeinheitsgrad erreicht hat, der selbst Insider zuweilen in Erstaunen versetzte. In vielen Sportarten hatte der Athlet oft nur noch die Wahl, diesen „organisierten Wahnsinn“ mitzumachen oder in Zweitklassigkeit zurückzufallen. Der moderne Hochleistungssport wurde auf diese Weise in ein technologisches Horror-Szenarium umfunktioniert, in dem Blutdoping und andere pharmakologische Manipulationen sich zu einer makabren Wirklichkeit verdichteten. Die Unversehrtheit und Würde des Athleten als wiederholt proklamiertem Maßstab der Sportverbände drohte dabei regelrecht zur fiktiven Alibifunktion zu verkommen.
Seit den 1980er Jahren wird zwar versucht, durch Fair play-Kampagnen (vgl. HESS 1988, S. 145 ff.), Regelverschärfungen und umfangreiche Anti-Doping-Maßnahmen (vgl. WEYER 1994, S. 6 ff.) der bedrohlichen Enthumanisierung des Spitzensports entgegenzuwirken. Ob und inwieweit es mit den eingeleiteten Stoppmechanismen allerdings gelingen wird, die Spirale der Veräußerlichung und Entfremdung des Spitzensports von seinem klassischen Sinngehalt zum Stillstand zu bringen, wird von vielen Kritikern skeptisch beurteilt. Durch seine Wandlung vom spaßorientierten Selbstzweck zum gewinnorientierten Existenzkampf habe der Leistungssport seine Unschuld verloren und jene Untugenden der Leistungs- und Erfolgsgesellschaft übernommen, von denen er sich in den 1950er Jahren durch einen hohen moralischen Anspruch zu distanzieren versucht hatte. Die sportliche Leistung als Mittel zum sozialen Aufstieg sowie als Demonstration der Überlegenheit eines politischen Systems und nicht mehr als Erlebnis um seiner selbst willen, verdränge moralische Tugenden, wie Achtung des Gegners, Großmut, Toleranz, Ritterlichkeit, Kameradschaft und Noblesse, und mache den Athleten zum Knecht seiner niederen Instinkte. Für den Erfolg setze der Athlet seinen Körper, seine Moral und Ehrlichkeit bedenkenlos aufs Spiel. Idealiter werde zwar auch der Spitzensport durch das Fairnessgebot legitimiert, in Wirklichkeit verkürze sich dieser Anspruch jedoch auf eine öffentliche Moral der Festtagsansprachen und eine meist verdeckt praktizierte Erfolgsmoral, die faustische Dimensionen anzunehmen droht.
Wer diese radikale Ansicht nicht teilt, muss dennoch anerkennen, dass im modernen Hochleistungssport nicht bestreitbare Tendenzen des Wegdriftens von seiner klassischen Sinngebung bestehen. COUBERTINs Konzeption einer „humanen Leistungselitenschmiede“, in der „edle Gefühle“, „Ehre“ und „ritterlicher Geist“ das Citius, Altius, Fortius moralisch-sittlich veredeln und unter Kontrolle halten sollen, droht sich heute ins Gegenteil zu verkehren. Die Instrumentalisierung und Verdinglichung der Leistung auf Kosten ihres Selbstverwirklichungsaspekts ist allgegenwärtig. Oftmals zählt nur noch der Sieg. Die innere Legitimationsbasis des klassischen Leistungssports wird dadurch von so vielen externen, nichtsportlichen Motiven und Interessen um- und überlagert, dass sein traditioneller Sinnanspruch häufig regelrecht korrumpiert wird.
Mehr denn je ist daher Ende des 20. Jahrhunderts die heile Welt Olympias Phantasterei – ein Wunschtraum, der den Blick verstellt für die tiefgreifenden Probleme des Spitzensports, die insbesondere in ihrer kumulierenden Wirkung ein für die Zukunft durchaus systemzerstörendes Potential in sich bergen.
Es verwundert daher nicht, dass die Kritik am Hochleistungssport sein ständiger Begleiter war und ist und dass sich seit den 1970er Jahren eine alternative Sportszene formierte, deren radikale Vertreter – nicht zuletzt beeinflusst durch die neoromantischen Strömungen in der Gesellschaft – sich rigoros gegen Leistung, Wettkampf und Askese im Sport aussprachen. Mit Nachdruck forderten sie stattdessen einen entsportlichten Erlebnissport, in dem nicht das Gegeneinander, sondern das Miteinander, nicht Gewinnen, sondern Spiel und Spaß, generell mehr Sinnlichkeit, Gegenwärtigkeit und Wahrhaftigkeit das Sporttreiben bestimmen sollten.
3. Problemlösungsversuche – eine Zukunftsperspektive
Doch so wenig die anhaltende „Hypertrophie“ und Fremdbestimmung des Spitzensports durch Medien, Politik und Wirtschaft im modernen Hochleistungssport verharmlost werden darf, so unrealistisch und weltfremd ist es, Leistung und Konkurrenz im Sport negieren zu wollen. Der Mensch ist von Natur aus ein leistendes Wesen, „homo performator“, der nur ist und sein kann durch den tätig-wirkenden Prozess des „Formens“ seiner selbst wie auch der irdischen Außenwelt (vgl. LENK 1983, S. 33-42). Hierin wurzelt die tiefste Begründung der grenzüberschreitenden Selbststeigerung im Leistungssport, die zum Wesen des Menschen gehört wie Rivalität und Kooperation. Das Leistungsprinzip im Sport sollte daher nicht prinzipiell verteufelt, noch der Hochleistungssport a priori als menschenfeindlich und pervers-korrupt abgestempelt werden, vielmehr geht es darum, die Abgleitungen und Fehlentwicklungen, die im Leistungssport in reicher Zahl vorhanden sind, zu thematisieren und unter Kontrolle zu halten.
Die Spirale der Verdinglichung und der Risikoentwicklung im Spitzensport kann nur durchbrochen werden, wenn seine negativen Auswüchse und sein Hang zur Maßlosigkeit eingedämmt werden. Die Gratwanderung des modernen Hochleistungssports zwischen Selbstverantwortung und Fremdbestimmung, sein prekärer Balanceakt zwischen Kulturgut und Wirtschaftsgut wird nur dann nicht in einem Fiasko enden, wenn Grenzlinien gegen sein ungezügeltes Wachstum gezogen werden und auf diese Weise einer unkontrollierbaren Systemwucherung vorgebeugt wird. Dies erfordert die Anwendung normativer Maßstäbe und Ziele, die verbindlich festlegen, was den wertvollen vom weniger wertvollen Leistungssport unterscheidet. Nicht alles darf erlaubt sein, was möglich ist! Dringlicher denn je ist die Sinnfrage zu stellen, nach welchen Normen und Werten der künftige Spitzensport ausgerichtet sein sollte. Neben der oft ungezügelten Hybris des Erfolgs gilt es, das Bessere im Leistungssport sichtbar zu machen, „daran zu erinnern, wie er ästhetischer, fairer“ und humaner sein kann, als er es heute oftmals ist (GRUPE 1991, S. 43). Die Zukunft des Hochleistungssports ist nicht schicksalhaft vorgegeben, sondern obliegt der Gestaltungskraft und dem Schöpfungswillen der Menschen, die ihn formen, aber auch deformieren können.
Lösen lässt sich die schwelende Sinnkrise des modernen Spitzensports nicht durch polemisch-destruktives Wehklagen, auch nicht dadurch, dass die Probleme einfach ignoriert oder die Unzulänglichkeiten im Inneren kurzerhand nach außen projiziert werden; ein Taumeln von Krise zu Krise wäre unweigerlich die Folge. Die Sinnkrise des Hochleistungssports wird sich vielmehr nur dann als Chance erweisen, wenn die Probleme klar erkannt und – darauf aufbauend – praktikable Problemlösungsstrategien erarbeitet werden, die zukunftsweisend sind.
Abschließend sollen daher Lösungsvorschläge für die aufgezeigten Probleme erarbeitet werden, denen als normative Richtungs- und Zielvorgabe eine wünschenswerte Zukunft des Spitzensports zugrunde liegt. Auf folgende vier Punkte möchte ich mich hierbei beschränken:
I. Trotz der Aufgabe des Amateurideals und obgleich heute der Sinn und die Substanz des klassischen Leistungsethos durch Erfolgssucht, Doping, Unfairness sowie die gewachsenen Abhängigkeiten von Wirtschaft und Politik nachhaltig bedroht sind, wird der Spitzensport dennoch nicht umhin können, auch
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künftig auf dieses Ethos zu pochen, möchte er verhindern, dass er seiner ureigenen Legitimation verlustig geht und sich in Fremdbestimmung, Inhumanität und Äußerlichkeiten verliert. Selbst wenn zuträfe, dass der moderne Hochleistungssport viele Athleten kaum noch erhebt, die Leistung vielmehr instrumentalisiert, der Körper ausgebeutet und der Athlet oft zum bloßen Material in den Händen zu ehrgeiziger Trainer, Funktionäre sowie der Macher hinter der eigentlichen Sportszene wird, ist das klassische Leistungsethos dennoch kein entbehrliches Requisit einer untergegangenen Epoche, sondern verkörpert nach wie vor sein qualitativ-anspruchsvolles Ideal, für das es sich zu kämpfen lohnt.
Auch künftig sollten daher intrinsisch motivierte Eigenleistung, Unversehrbarkeit und Würde der Person des Athleten sowie Fair play als innerstes Wertezentrum und als tiefster Legitimationskern des Hochleistungssports erhalten bleiben. Eingebunden in dieses Ethos werden Leistung und Leistungssteigerung gerade nicht um jeden Preis angestrebt, sondern ethischen und humanitären Werten verpflichtet, die ihren tieferen Sinn begründen. Ein solcher Leistungssport folgt für GRUPE (1991, S. 45) eben nicht nur den Maximen des Kommerzes, der Unterhaltungsindustrie und politischer Vorgaben, sondern steht im Interesse seiner Selbsterhaltung und Weiterentwicklung konsequent zu seinen ursprünglichen Idealen und stellt derart „eine herausfordernde – kulturelle – Idee des letzten Teils unseres Jahrhunderts“ dar, „indem er vielen und nicht nur jungen Menschen Chancen zur besonderen Gestaltung ihres Lebens und Maßstäbe für Qualität und manchmal Perfektion anbietet“.
Die Kritiker dieser idealistischen Bestimmung des Leistungssports werfen ihren Befürwortern Blauäugigkeit vor. In der leistungssportlichen Realität käme diesen klassischen Tugenden nur noch die Funktion einer Scheinmoral zu, die verschönere, wo es nichts mehr zu beschönigen gäbe. Möchte der Spitzensport jedoch seine Vorbildfunktion für viele Jugendliche nicht verlieren und möchte er verhindern, dass er sich von der Wertebasis des Gesamtsystems des Sports zu weit entfernt, muss er auf seinen Idealen beharren, so sehr diese heute auch durch nicht-sportliche, äußere Sinnmuster entstellt und deformiert werden. Sollte dies nicht gelingen, wofür es durchaus Anhaltspunkte gibt, wird – über kurz oder lang – eine Abkopplung des Spitzensports vom übrigen Sportsystem kaum zu umgehen sein; und damit läge die Entfremdung seines ursprünglichen Sinns in zeitangepassten Gladiatorenkämpfen durchaus im Bereich des Möglichen.
II. Wer eine solche Sinnverkehrung des Hochleistungssports verhindern möchte, muß Maßnahmen zur Stärkung seines inneren Wertekerns ergreifen. Auf der Individualebene des Athleten ist hierzu eine Pädagogisierung der Sportlerethik erforderlich, die den Grundsätzen des Leistungsethos verpflichtet ist. Nicht nur die einseitige Vermittlung von technischen und taktischen Fertigkeiten darf die Lernprozesse im Leistungssport bestimmen, vielmehr muss von Jugend an und wesentlich intensiver als bisher üblich jenes ethische Rüstzeug vermittelt werden, ohne das der Leistungssport nur allzu bereitwillig zum willkürlich instrumentalisierbaren Torso verkümmert. Die moralische Haltung des Fair play kann nicht vorausgesetzt, sondern muss erlernt und eingeübt werden, wie dies beispielsweise KOHLBERGs Moralpädagogik vorsieht. Nur als verinnerlichte Bewusstseinskategorie in den Köpfen von Sportlern, Trainern und Funktionären besteht die Chance, dass die Bemühungen um einen fairen und sauberen Sport nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Die Erweiterung des Lernkatalogs bei der Übungsleiter-, Trainer- und Funktionärsausbildung der Verbände um sportethische Aspekte ist daher dringend erforderlich, ohne dass deshalb einer überzogenen Moralisierung das Wort geredet wird, die das Lernfeld des Sports zur Moralanstalt der Gesellschaft erhebt.
Zweifellos trugen die Professionalisierungstendenzen im modernen Hochleistungssport maßgeblich dazu bei, dass seine klassischen Werte oftmals nur noch als Verdeckungsideologie benutzt werden, um die äußeren, nicht-sportlichen Beweggründe zu kaschieren. Dies spricht jedoch weder gegen den Wert solcher Ideale, noch schließt dies das Einbringen des Leistungsethos in das Berufsethos aus. Trotz aller Beeinträchtigungen, Gefährdungen und Verzerrungen seiner inneren Wertebasis durch die Entwicklungstendenzen der letzten Jahrzehnte kann der Spitzensport durchaus Moralgemeinschaft sein und bleiben, sofern er eine Professionsethik fördert, die den allgemeinen Prinzipien des „sportmanship“ im klassischen Sinne Geltung und Bedeutung verleiht (vgl. NEIDHARDT 1985, S. 77). Dieser sportliche Geist beschränkt sich nicht nur auf die Einhaltung der vorgegebenen Regeln und Normen, sondern zielt auf die dahinterliegende moralische Grundhaltung der Gerechtigkeit, Gleichheit und Brüderlichkeit unter Menschen, die den Spitzensport erst menschenwürdig macht und am ehesten verhindert, dass er sich im Gestrüpp von Erfolgssucht, Publicityrummel, Neid, Aggression und zuweilen auch Hass hoffnungslos verfängt. Der janusköpfige Fortschritt im modernen Hochleistungssport bedarf einer ethischen Bändigung, die das Subjekt nicht zum beliebig manipulierbaren Objekt erniedrigt, sondern zum Maßstab des Leistungshandelns erhebt (vgl. JAKOBI 1986).
III. Ohne die Abstützung der Individualethik der Athleten durch eine Organisationsethik der Verbände verpufft die tiefenstrukturelle Erneuerung des Spitzensports jedoch unweigerlich. Auch Hochleistungssportler sind nur Menschen, keine Halbgötter, die den Versuchungen und Verführungen nur allzu leicht erliegen, die dem Handlungsfeld des modernen Spitzensports in reicher Zahl innewohnen. Die einseitige Subjektivierung der Probleme drängt den Athleten nicht nur in die Rolle des alleinigen Sündenbocks, sondern lenkt auch von den strukturellen Systemzwängen ab, die diese Probleme erzeugen. Nachdrücklich eingeklagt werden muss daher die Schaffung solcher Strukturen, die die Tugendhaftigkeit des Einzelnen nicht unverhältnismäßig überfordern, ihn andererseits daran hindern, abweichendes Verhalten ungestraft zu praktizieren.
Gefragt ist die Verantwortung und Fürsorgepflicht der Verbände ihren Akteuren gegenüber. Diese Verantwortung setzt bei der Vermeidung überzogener Erfolgserwartungen an, die dem Leistungsethos entgegenstehen und die Eskalierung unlauterer Mittel geradezu provozieren. Sie setzt sich in der Forderung fort, dass der Athlet nicht um jeden Preis fit gespritzt oder von Höhepunkt zu Höhepunkt gehetzt werden darf, ohne dass ihm die erforderlichen Regenerationszeiten gewährt werden. Und sie gipfelt in solch trivialen Regelvorgaben wie der Festlegung eines Mindestalters für die Teilnahme von Kindern und Jugendlichen bei internationalen Großveranstaltungen, wohl wissend, dass bis heute kein tragfähiger Konsens in dieser Frage erzielt werden konnte.
Da zudem durch die Professionalisierung des Spitzensports die materielle Existenz und der soziale Aufstieg an Sieg und Niederlage gekoppelt werden, ist die Abstützung der inneren Haltung des Fair play durch ein äußeres Kontroll- und Sanktionssystem notwendiger denn je. Norm- und Regelverletzungen, die im Grenzbereich extremen Leistens nicht oder nur zu geringfügigen Strafen führen, verleiten nur allzu leicht zur Nachahmung. Weniger durch gutgemeinte Appelle wird man daher Unfairness, Gewalt und Dopingmissbrauch im Spitzensport in den Griff bekommen, als vielmehr dadurch, dass die Kosten für abweichendes Verhalten hoch angesetzt werden, wodurch deren Nutzen unweigerlich sinkt (vgl. PILZ 1991). Gelbe und rote Karten, Zeit- und Spielsperren bis hin zum Ausschluss aus dem Sportbetrieb erfüllen hierbei die unentbehrliche Funktion, das öffentliche Bewusstsein für die Ge- und Verbote der Normen und Werte des Leistungsethos aufrechtzuerhalten. Auf Dauer werden die Verbände nicht umhin können, eine weitere Verrechtlichung des Sportbetriebs mit verschärfter Regelanwendung und Kontrollintensivierung voranzutreiben, wie sich derzeit bei der Doping-Bekämpfung anschaulich belegen lässt.
Nie entbindet jedoch die soziale Verantwortung der Verbände den einzelnen von seiner persönlichen Verantwortung für sein Tun. Je höher daher beides, die lndividualethik der Akteure und die Organisationsethik der Verbände, entwickelt sind, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Spitzensport seiner humanitären Ideale jemals vollständig
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entledigt und zum Zerrbild seines besseren Selbst wird. Zweifellos wäre der Leistungssport hoffnungslos überfordert, wollte er heilen, woran die Gesellschaft krankt; nichtsdestoweniger muss er versuchen, die Kluft zwischen Wirklichkeit und Ideal seines Anspruchs zu verringern, möchte er die Vision einer humanen und fairen Leistungsgesellschaft nicht aufgeben – so mühsam und vom Scheitern bedroht sich dieses Unterfangen im Einzelfall auch erweisen mag.
IV. Neben diesen systeminternen Maßnahmen zur Stützung des Leistungsethos wird es künftig entscheidend darauf ankommen, inwieweit es dem Spitzensport gelingt, der wachsenden Fremdbestimmung seines Sinns und seiner Strukturen durch externe, nicht-sportliche Kräfte entgegenzuwirken. Die Klagen über den drohenden Verlust seiner Autonomie und seines Selbstverständnisses durch die zunehmend enger gewordenen Verflechtungen mit Politik, Wirtschaft und Medien finden hierin ihre Begründung.
Handikap und Dilemma des Spitzensports aber ist, dass die immensen Kosten im Wettkampfbetrieb ohne die finanzielle Unterstützung von außen nicht mehr abgedeckt werden können. Unbestreitbar ist der moderne Hochleistungssport extrem teuer geworden! Start- und Preisgelder haben mittlerweile so schwindelerregende Höhen erreicht, dass internationale Großveranstaltungen ohne Werbe- und Sponsorenverträge, ohne Verkauf von Übertragungsrechten sowie ohne staatliche Zuschüsse nicht mehr finanziert werden können. Damit tut sich ein Teufelskreis der immer stärkeren Abhängigkeit des Spitzensports von Drittmitteln auf, der durchaus bedrohliche und selbstzerstörerische Ausmaße annehmen kann.
Da es jedoch illusorisch wäre, die Autonomie des Hochleistungssports dadurch wiederherstellen zu wollen, dass die Kontakte nach außen kurzerhand abgebrochen werden, wird der Hochleistungssport künftig vermehrt Sorge tragen müssen, dass er den Grenzverkehr zur Umwelt unter Kontrolle hält. Trotz seiner Austauschprozesse und Arrangements insbesondere mit der Wirtschaft muss er die Macht behalten, „seine eigenen Regeln zu bestimmen und durchzusetzen“ (NEIDHARDT 1985, S. 76). Nur wenn es ihm gelingt, selbst zu bestimmen, unter welchen Bedingungen dieser Austausch stattfinden darf, kann er verhindern, dass die prekäre Balance zwischen Eigen- und Fremdbestimmung zu einer an die Substanz gehenden Überfremdung seiner Strukturen führt.
Je mehr der Spitzensport dabei als Einheit und geschlossene Interessengruppe auftritt, der sich seiner Bedeutung in der Öffentlichkeit voll bewusst ist und diese Tatsache als sportpolitisches Druckmittel auch einsetzt, umso mehr wird er seine Interessen Dritten gegenüber wahren und ungerechtfertigte Zumutungen zurückweisen können. Übervorteilung wird er indessen nur vermeiden können, wenn er sich von seinem über Jahrzehnte gepflegten Image einer privatisierenden und nach außen relativ abgeschlossenen Selbsthilfeorganisation befreit und seinen externen Sachverstand hinsichtlich der politischen, wirtschaftlichen und medialen Entscheidungsmechanismen entscheidend erhöht.
Die vielbeschworene Partnerschaft mit Staat und Wirtschaft wird nur dann nicht in einem Desaster enden, wenn der Hochleistungssport einerseits die Interessen der an ihn herantretenden Umweltkräfte angemessen zu beurteilen weiß, er andererseits stets willens und fähig ist, seine relative Autonomie hinreichend zu verteidigen. Einseitige finanzielle Abhängigkeit von nur einem Geldgeber sollte er ebenso vermeiden, wie er versuchen muss, durch Umverteilungsmechanismen einen Finanz- und Solidarausgleich zwischen reichen und armen Sportarten sowie zwischen Leistungs- und Breitensport herbeizuführen, möchte er auf Dauer die Einheitssportbewegung der Vereine und Verbände unter dem Dach des Deutschen Sportbundes nicht unverhältnismäßigen Belastungen aussetzen.
4. Ausblick
Als Resumee kann festgehalten werden, dass in den letzten Jahrzehnten eine „Hypertrophie der Leistungssteigerung“ stattfand, die – letztlich verursacht und vorwärtsgetrieben durch die Vergesellschaftung des Leistungssports zum öffentlichen Ereignis – ein Wegdriften des Spitzensports von seinem klassischen Sinnanspruch nach sich zog. Die Folge war eine tendenziell bedenkliche Entwertung seines Moralanspruchs durch Doping, Unfairness und Erfolgssucht sowie eine wachsende Bedrohung seiner Autonomie durch Politik, Wirtschaft und Medien, die durchaus das Potential seiner restlosen Veräußerlichung und Entfremdung in zeitangepassten Gladiatorenkämpfen in sich birgt.
Wer eine solche Entwicklung vermeiden möchte, darf sich nicht auf die Position zurückziehen, Moralbegriffe des Sports für Jedermann könnten nicht auf den Hochleistungssport übertragen werden. Noch dürfen sich dessen Akteure durch den Verweis auf analoge Tendenzen in der Gesellschaft aus der Verantwortung für ihr Tun davonstehlen. Vielmehr müssen durch die Setzung normativer Maßstäbe Grenzlinien gezogen werden, die der inhumanen und fremdbestimmten Wucherung seiner Strukturen Einhalt gebietet. So gesehen ist das Leistungsethos kein Fossil einer untergegangen Epoche, das nur noch der ideologischen Verschönerung des Spitzensports dient, vielmehr stellt es nach wie vor sein unverzichtbares Wertezentrum dar, das es trotz aller Verfehlungen und Beeinträchtigungen zu verteidigen gilt. Als Chance für die Zukunft wird sich die derzeitige Sinnkrise des modernen Hochleistungssports indes nur erweisen, wenn die aufgezeigten Problemlösungsstrategien nicht nur in Festtagsansprachen rezipiert werden, sondern als strukturelle Vorgaben in einem Prozess der aktiv-gestaltenden Reorganisation auch sportpolitisch um- und durchgesetzt werden.
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